Der Aufbau von Wertschöpfungsketten ist nicht immer leicht und die Herausforderungen sind manchmal unvorhersehbar. Auch Scheitern kann dazugehören. Ein ehrlicher Erfahrungsbericht von Wertschöpfungskettenmanagerin Anja Ettner.
Themen, welche bei mir immer mitten ins Herz treffen, sind Tier-Themen. So ging es mir auch, als ich von einem Berater ganz direkt mit den Bruderkälbern in der Milchwirtschaft konfrontiert wurde. Wohin mit den männlichen Kälbern? Klar ist mir bekannt, dass für meine Milch im Kaffee früher oder später Kälbchen sterben müssen. Aber ich konnte es auch ganz wundervoll verdrängen. Jetzt war es plötzlich mein Job, mich damit auseinanderzusetzen.
Zuerst unterhielt ich mich mit einer Landwirtin aus der Uckermark, die einen Milchkuh-Betrieb hat. Sie erzählte mir von ihrem Arbeitsalltag mit den Kühen und der Problematik, der sie sich stellen muss und die sie gerne verändern möchte. Welche Problematik? Die Milchkuh wurde, wie auch Legehenne, Milchschaf und Ziege, auf Leistung gezüchtet. Fleisch ist in dieser Milchlinie zweitrangig. Die jungen weiblichen Kälber werden innerhalb der Herde großgezogen und gehen ihrer Arbeit nach – Kälbchen bekommen, Milch geben… Aber was ist mit den männlichen Kälbern, die geboren werden? Sie werden tatsächlich nicht gebraucht. Sie lassen sich schlecht mästen, bringen zu wenig auf die Waage – benötigen aber genauso viel Fressen. Aus Platz- und Kostengründen sind die männlichen Kälber auf den Höfen nicht haltbar, sie müssen gehen. Aber wohin? Bisher wurden die männlichen Kälber sehr früh von einem Viehhändler abgeholt, um dann zuweilen mehrere hundert Kilometer zu einem – oft konventionellen – Mastbetrieb transportiert zu werden.
Aber was ist mit den männlichen Kälbern, die geboren werden? Sie werden tatsächlich nicht gebraucht.
Kalb- oder Ochsenfleisch?
An dieser Stelle bin ich eingestiegen. Wie können wir es schaffen, dass das Tier zumindest in der Region gehalten werden kann, wenn schon nicht auf dem eigenen Hof? Unter welchen Voraussetzungen könnten die Kälber für die Mast attraktiv sein? Ein Mastbetrieb in Sachsen erklärte sich bereit, mit uns zusammen einen Versuch zu starten. Sollte es wirklich so einfach sein? Wir haben uns getroffen: Juliane Thiele aus Gransee, Dirk Barthel aus Greudnitz, der Berater Günter Schlotter und ich. Mit Hilfe vorangegangener Bruderkalbprojekte anderer Verbände, Initiativen, Modellregionen und Ähnlichem hatten wir fundiertes Wissen, aussagekräftige Zahlen und Ergebnisse in der Hand.
Zunächst mussten wir klären, welchen Weg wir einschlagen wollen. Sollen die Kuh-Jungs oder Cow-Boys, wie wir sie nannten, als Kalbfleisch vermarktet werden oder als Ochsen? Wir waren uns schnell einig, dass die Kälber in Dirk Barthels Mastbetrieb gute eineinhalb bis zwei Jahre gemästet und dann in seiner Fleischerei verarbeitet und als Ochsenfleisch vermarktet werden. Auch war uns klar, dass das Bruderkalb als reine Milchkuh nicht die Lösung sein kann. Es müsste eine Fleischlinie eingekreuzt werden, um das Bruderkalb für die Mast attraktiver zu machen.
Quersubventionierung nötig
So wurde unser Cow-Boy Projekt geboren. Wir einigten uns darauf, dass die Kälber ungefähr drei Monate ammengebunden bei Juliane im Stall leben und dann zu Dirk umziehen. Wir wollten zwei unterschiedliche Versuche starten: fünf Cow-Boys aus reinen Holstein-Friesian-Milchkühen (HF) und einige Monate später fünf Cow-Boys, die mit einer Fleischrasse eingekreuzt werden.
Eigentlich ging alles ganz schnell und unkompliziert voran. Die Kälber wurden geboren, und wir trafen uns im Ammenstall vor Ort, um sie anzugucken und noch einige Absprachen zu Kastration und Impfung zu treffen und natürlich, um uns persönlich kennenzulernen. Bisher hatten wir uns nur über Zoom abgesprochen. Über die Kosten wollten wir uns unterhalten, wenn die Kälber umziehen sollten. Juliane schickte uns jede Woche wundervolle Aufnahmen vom Leben der Kälber. Wir konnten sehen, wie super sie sich entwickelten. Aus anderen Projekten war jedoch klar, dass sich die Kosten nicht allein über das Fleisch decken lassen. Wir mussten also andere Produkte finden, über die sich der Mastaufwand und die geringere Masse abfangen ließen; so ähnlich wie bei den Bruderhähnen, die über das Ei quersubventioniert werden sollen.
Plötzlich wurde es schwierig…
Gemeinsam mit unseren Partnern innerhalb des Wertschöpfungskettenprojekts, die unsere Versuche mit großem Interesse begleiteten, überlegten wir, welche Produkte attraktiv für den Großhandel, den Fachhandel und somit für die Endverbraucherschaft seien und was vor allem schnell umsetzbar sei. Natürlich kommt es auch auf die Vermarktung an. Milch ist ein sehr einfaches und schnelles Produkt, bei Käse kann der Aufpreis besser kaschiert werden. Bei der Vermarktung ging es um Milch aus kuhgebundener Kälberaufzucht und weniger um die Kälberaufzucht. Dafür mussten wir nun eine Molkerei gewinnen, die dem Großhandel und dem Fachhandel ein faires Angebot unterbreiten würde, welches von der Verbraucherschaft zu stemmen sei und bei den Milchkuhbetrieben einen großen Anteil der Mehrkosten für die Kälberaufzucht deckle. Also gingen wir mit den regionalen Molkereien ins Gespräch und stießen wieder auf großes Interesse.
Nächster Schritt: Die Kälber mussten umziehen und wachsen, wachsen, wachsen. Und ich musste mehr Milchkuhbetriebe finden, die ammengebunden aufziehen und ihre Kälber vielleicht sogar zu Ochsen mästen wollen oder aber mehr Kooperationsbetriebe. Doch dann wurde es plötzlich schwierig. Die Kälber zogen wie geplant um. Dirk Barthel holte sie selbst ab, und sie kamen gut in ihrem neuen zu Hause an. Zuerst sollten sie ein paar Tage alleine stehen, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen. Ohne ihre Ammen zu leben, hatten sie schon bei Juliane gelernt. Nach und nach waren sie entwöhnt worden, aber immer im Verbund und niemals alleine. Das halte ich für enorm wichtig, denn einzelne Kühe brauchen den Schutz der Herde, um sich vor Gefahren zu schützen. Und das war dann auch das erste Problem, an welchem Dirk und die Cow-Boys zu scheitern drohten.
Unser Zwischenergebnis: Die Cow-Boys dürfen bleiben, aber es wird kein neuer Versuch stattfinden.
Versuch gescheitert, aber wir machen weiter!
Nach einigen Tagen durften die Kälber auf die Weide und sich an den Elektrozaun gewöhnen. Dann sollten sie schnellstens in die Herde integriert werden. Das funktionierte aber nicht so richtig. Die Cow-Boys wurden nicht in die Herde aufgenommen, eher gemobbt von der Herde. Meistens standen sie etwas abseits in ihrer eigenen kleinen Gruppe, und das war problematisch. Bei Dirk Barthel in der Region haben sich zwei Wolfsrudel angesiedelt, und Kälber ohne Herdenschutz haben keine Chance. Natürlich hätte es die Möglichkeit gegeben, die Herde langsam an die neuen Mitbewohner zu gewöhnen, aber Dirk Barthel hatte plötzlich mit anderen Problemen zu kämpfen – den Auswirkungen des Klimawandels. Seit Februar kaum Regen, kein Futter auf den Weiden, und die Saat für den Futtermais, Lupinen und so weiter vertrocknet.
Unser Zwischenergebnis: Die Cow-Boys dürfen bleiben, aber es wird kein neuer Versuch stattfinden. Sie hüpfen nicht wie erhofft über die grüne, saftige Weide. Wir könnten sagen: Unser Versuch ist gescheitert. Ist er aber nicht. Denn immer noch möchten Milchkuhbetriebe ihre Kühe kuhgebunden aufziehen und auch die Bruderkälber zu einem wertvollen Tier werden lassen, weil es ein Lebewesen ist. Und immer noch möchten Großhandel und Fachhandel Produkte aus kuhgebundener Kälberaufzucht, genauso wie die Endverbraucher*innen. Also los, suchen wir uns einen anderen Weg!